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Data Driven History @ NGHM
Visualisierung eines Space-Time-Cubes: Die Sachverhalte aus der Osnabrücker Gestapo Kartei (1928-1945)
Der digital turn verändert auch die Geschichtswissenschaft grundlegend. Nachdem sie lange auf ihre hermeneutische Tradition verweisen konnte, steht sie seit einigen Jahren vor der Herausforderung, sich digitale Technologien zu erschließen, sie sich anzueignen und sie produktiv und reflektiert für den Erkenntnisgewinn einzusetzen.
Eine gelungene Digitalisierung der Geschichtswissenschaft geht dabei über die bloße digitale Reproduktion historischer Quellen, der Herstellung sog. ‚Digitalisate‘ und der Sammlung von Metadaten, hinaus. Sie nutzt die innovativen Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung zur tieferen Durchdringung der Inhalte von Quellen und bezieht diese in bislang ungekannt großer Zahl in die historische Forschung ein.
Damit ist der simple Grundgedanke einer Data Driven History (DDH) bereits skizziert, wie wir sie am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung an der Universität Osnabrück entwickeln. Sie ist unsere Antwort auf die Frage nach der Digitalisierung der Geschichtswissenschaft und unser Beitrag zur sich etablierenden Digital History.
In der DDH geht es nicht primär um das sog close-reading der Quellen, mit dem Ziel, deren Aussagen narrativ zu verwerten. Kritisch stellt sie vielmehr zunächst die Entstehungskontexte der Quellen scharf und betrachtet ihre Erforschung als notwendige Voraussetzung der weiteren wissenschaftlichen Analyse historischer Massendaten. Solche Massendaten liegen in manchen Fällen bereits digital vor. Historiker*innen können sie mit den digitalen Mitteln inzwischen aber auch selbst generieren. Ausgefeilte KI- und Algorithmen-gestützte Extraktionsverfahren machen es möglich, automatisiert digitale Repliken umfassender Quellenkorpora herzustellen, in denen die Inhalte als digitale Volltexte zur Verfügung stehen. Effizient in Datenbanken gespeichert regen Massenquellen zum Perspektivwechsel an eröffnen durch ihre Transformation in das Digitale eröffnet sich ein ganz neues Spektrum an Analyseoptionen.
Data Driven History beschreibt deshalb auch ein Labor, in dem wir mit Datenformaten und digitalen Werkzeugen experimentieren, um neue digitale Methoden zu erproben. Ziel ist es, Befunde explorativ aus historischen Massendaten herauszuarbeiten und sie Teil unserer historischen Interpretationen von Vergangenheit werden zu lassen. Die Ansätze des Knowledge Discovery in Databases erweisen sich dabei als besonders produktiv. Data Mining und Text Mining visualisieren die den historischen Massendaten inhärenten Strukturen, die bislang unsichtbar gebliebenen sind. Darüber gelingt es, zeitlich und räumlich differenziert Muster aufzuzeigen, die auf historische Phänomene, Dynamiken und Prozesse verweisen.
Wegen ihrer stärkeren Formalisierung sind serielle Quellen für diese Methoden besonders geeignet. In der Data Driven History können diese administrativen Massenquellen der Moderne erstmals über Einzelfallbetrachtungen hinaus umfänglich in historische Forschungen einbezogen werden und gewinnen darüber für die Geschichtswissenschaft ganz neue Relevanz: Bestände an Personenstandsregistern, Musterungsunterlagen, Antragsformularen etc. aber z.B. auch ganze Karteien sind als prozessgenerierte Medien das Produkt administrativen Handelns im Angesicht eines als Herausforderung wahrgenommenen sozialen Phänomens. Sie sind damit zugleich Ausdruck von Relevanzzuschreibung historischer Gesellschaften, historische Wissensspeicher und detaillierte Protokolle der gewählten Bewältigungsstrategie.
Diesen Komplex gilt es, für die Geschichtswissenschaft zu erschließen. Denn in die seriellen Quellen sind nicht nur Spuren relevanter historischer Prozesse eingeschrieben worden, sondern auch die Perspektiven der Verwaltungen, ihre ideologisch bedingten Auswahlprozesse bei der Wissensproduktion und damit die Umrisse ihrer konstruierten Wirklichkeit. Ein Bewusstsein dieser historischen Kontingenz stellt die scheinbare Selbstverständlichkeit der administrativen Massenquellen in Frage. In digitaler Form machen sie nicht nur den Prozess erforschbar, den sie medial begleitet haben, sondern rufen außerdem dazu auf, den historiografischen Blick direkt auf die Institutionen zu richten, die die Quellen erzeugt haben.
Dadurch erschließen sich den Historiker*innen zwei unterschiedliche Gegenstände: 1. Werden die akut als Herausforderung wahrgenommenen Phänomene, Ereignisse oder Prozesse beforschbar, denen Verwaltungen mit der Kulturtechnik der Wissensproduktion begegnet sind. 2. Können aber auch die Praktiken von Gesellschaften in solche Phasen untersucht werden, die sich nicht durch prominente Diskurse auszeichnen, sondern als ‚Normalität‘ in gewisser Weise die Routine moderner Gesellschaften formten. Auch ohne rahmende Diskurse lassen sich in solchen Phasen Dynamiken beobachten, die relevant sind, das Geworden-sein von Gesellschaften zu begreifen. In beiden Fällen sind die seriellen Quellen Ausdruck gouvernementaler Bedürfnisse bzw. gefühlter Notwendigkeiten. Mithilfe unserer Data-Driven-History lassen sich beide wissenschaftlichen operationalisieren und tragen auf ihre Art zum historischen Erkenntnisgewinn bei.