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Stadt und Land
Eine das homosexuelle Leben in diesem Aufbruch in die Emanzipation besonders prägende Eigenschaft Osnabrücks war dessen intensive Wechselbeziehung zum Umland. Nicht nur der Weg- und Zuzug aus den Dörfern oder in die Großstädte war von größter Bedeutung, sondern auch die alltägliche Mobilität in der Region.
Reproduzierte Unsichtbarkeit im Umland
Die Arbeit der ersten urbanen Gruppen und ein vorsichtiger öffentlicher Diskurs über Homosexualität in der Bundesgesellschaft führte vielen schwulen und lesbischen Menschen in den Dörfern nur noch deutlicher vor Augen, wie hier die gesellschaftliche Sozialkontrolle und implizite Mechanismen die Unsichtbarkeit von Homosexualität großenteils unwidersprochen reproduzierten.
Kurt Mühlenschulte*
Auf der Treppe des Gemeindehauses [...] stand eines Tages in roten Buchstaben auf diesen Sandstein gespritzt: „Auch in S.-dorf* gibt es Schwule.“ Die Steine wurden noch vor dem Kirchgang abgeschlagen, mit dem Lastwagen abtransportiert.
Kurt Mühlenschulte berichtet von einem für ihn besonderen Tag in seinem Heimatdorf nördlich von Osnabrück, als plötzlich eine Sprüherei auftauchte, dass es auch hier Schwule gebe. Sie wurde sofort entfernt. (Projektarchiv VHM, Interview P1) Vor Ort blieb es seine einzige und prägende Begegnung mit Homosexualität - bzw. vielmehr mit dem gesellschaftlichen Umgang mit ihr. Ganz ähnlich berichtet Dierk Gutsche*, wie er in seinem Heimatort als Jugendlicher nach Anhaltspunkten für homosexuelles Leben suchte, aber keine fand. Gefragt nach seiner Berührung mit dem §175 antwortet er, er selbst habe als Jugendlicher nichts davon gewusst und auch keine Schwulen im Umfeld gekannt. Potentielle Kontaktzonen zu anderen Homosexuellen waren schon alleine dadurch gering, da Menschen, bei denen es bekannt wurde, die Dörfer verließen. (Projektarchiv VHM, Interview P5)
Privat und beruflich fest im Dorfleben verankerte Männer wie Lennard Germroth* führten ein Doppelleben, in welchem sie ein traditionell familiäres Landleben mit einer in den Städten versteckt gelebten Homosexualität unsichtbar verbanden. Er brach aus seinem bäuerlichen Leben aus, um in den Städten der Region Veranstaltungen zu besuchen und um mit einem Kulturverein zu reisen. Seine Begeisterung für die Bühnen der Region hatte Nebenseiten: "Das war natürlich toll, weil da hatte ich die Möglichkeit auch mal so nen One-Night-Stand oder irgendwas Quickie zu machen. Ich hab nie eine Beziehung aufgebaut. Immer nur so, war schon für meine Familie da." (Projektarchiv VHM, Interview P24) Oft führte sein Weg dabei über Osnabrück hinaus in das von seinem Dorf noch weiter entfernte Bielefeld. So trennte er in den städtischen Treffs, Klubs und Schwulensaunen das Begehren von der Liebe, die für die Familie reserviert blieb.
Die spezifische Lage Osnabrücks
Durch den in beide Richtungen eng mit dem Umland verbundenen Charakter Osnabrücks entstanden hier – anders als in Städten wie Berlin oder Köln – besondere Überlappungen zwischen homosexuellem Leben in der Stadt und auf dem Land. Dies geschah teils durch Umzüge und Mobilität und teils durch enge Beziehung mit Personen und Gruppen im Umland.
Dierk Gutsche*
Also ich wusste, Dorfausgang, da wohnte ein Schwuler, der aber verheiratet ist mit einem Kind. Der ist später ausgezogen, hat sich scheiden lassen und ist dann weggezogen.
Osnabrücks Charakter einer ins ländliche Umland integrierten Stadt bedeutet auch, dass sich die in den 1970er Jahren in der Stadt entstehenden Gruppen und Organisationen mit einer großen biographischen Diversität ihrer Mitglieder auseinandersetzen mussten. In diesen waren gebrochene Biographien und auch bestehende Ehen mit Kindern alles andere als eine Besonderheit, sondern zentrale Themen. In dieser steten Aushandlung erblickt Albert Leuck* "was Spezifisches für Osnabrück". Denn, so führt er aus, es sei
was anderes ob man jetzt zum Beispiel in Berlin oder in Köln oder in Hamburg als Schwuler unterwegs und lebt, weil es das ganz klar, das sind eben Metropolen. Sind sind ja auch ein bisschen die schwulen Hauptstädte, wo das vielleicht auch schon ein bisschen weiter zurück, zurückreicht. Einfach weil das die, über die schiere, pure Anzahl einfach, ne. Weil‘s da schon immer geballter war. Und in Osnabrück sind eben auch sehr viele so in der Szene, die, die vom Land so zugewandert sind. Ne, die, und die auch diese Geschichten, die auch diese Geschichten mitbringen. Und das find ich schon sehr, das ist schon sehr spezifisch für Osnabrück. (Projektarchiv VHM, Interview P15)
Dies war aber nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Möglichkeit. Noch heute kenne er einige Paare, "wo sich jeweils zwei gefunden haben, die auch so ähnliche Geschichten haben, ne. Die auch, wo beide irgendwie erwachsene Kinder haben und […] vielleicht sogar noch im ländlichen Raum leben. […] Die das auch miteinander verbindet, […] diese gleiche Geschichte zu haben." (Projektarchiv VHM, Interview P15) Solche prägenden Überlappungen heben Osnabrück von der homosexuellen Geschichte in den Szenemetropolen ab. Sie waren aber mit Blick auf die stark von kleinen und mittelgroßen Städten und umgebende Dörfer geprägte Siedlungsstruktur Deutschlands wahrscheinlich alles andere als außergewöhnlich.
Eine Phase der Gegensätze
So kann man resümieren, dass in den 1970er Jahren in Osnabrück sehr unterschiedliche Strömungen zusammenfanden. Dabei formte sich um den Wechsel des Jahrzehnts eine schwule Lebenswelt, die stark politisch aufgeladen war und von Jahr zu Jahr an Selbstbewusstsein und Sichtbarkeit gewann. Dies geschah jedoch angesichts zunehmender Angriffe. Für lesbische Frauen waren hingegen noch keine institutionalisierten Anlaufpunkte entstanden, da ihr Engagement stark in den größeren Zusammenhängen feministischer Selbstorganisation aufging. Was jedoch beide prägte, war eine eher gemischte Lebenswelt aus Zu- und Wegzügen, aus generationellen Unterschieden und vor allem von Stadt und Land geprägten Lebenswegen, teilweise inklusive bestehender tradierter Beziehungen.
Homosexuelles Leben Anfang der 1980er Jahre in Osnabrück war von Gegensätzen geprägt – von Stadt und Land, von Familienleben und Ausbruch, von der Suche nach Öffentlichkeit und dem Schutz im Dunkeln. Sie aber widersprachen sich nicht, sondern bildeten die Wurzel einer in der Folgezeit entstehenden homosexuellen Lebenswelt innerhalb Osnabrücks.
©VHM (2020)