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Historischer Rahmen
Der Paragraph 175 wurde mit dem ersten Strafgesetzbuch von 1872 reichsweit eingeführt. Er vereinheitlichte die zuvor in den Ländern unterschiedlich gehandhabte Strafverfolgung männlicher beischlafähnlicher homosexueller Handlungen. Bereits im Vorfeld protestierten Experten unter Verweis auf angeborene sexuelle Neigungen gegen die Installation eines Strafrechtsparagraphen. Sie wurden im Gesetzgebungsprozess letztlich jedoch nicht erhört.
Kaiserreich und Weimarer Republik
So war Homosexualität nicht nur rechtlich strafbar, sondern wurde gesellschaftlich auch gezielt zur Rufschädigung eingesetzt. Magnus Hirschfeld demonstrierte, dass die Strafverfolgung Kriminalität wie Erpressung und Leid bis zu Selbstmorden schuf, anstatt die Gesellschaft davor zu bewahren.
§175 RStGB (1872)
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Bereits seit dem späten Kaiserreich setzten sich zahlreiche Initiativen gegen die Strafverfolgung ein, indem sie über Homosexualität als eine angeborene und damit nicht schuldhafte Neigung aufklärten. Trotz dieses Engagements überdauerte der §175 in die Weimarer Republik, deren Janusköpfigkeit auch diese Geschichte kennzeichnet. Auf der einen Seite führte die Polizei Homosexuellenlisten und zensierte beispielsweise trotz des verfassungsrechtlichen Zensurverbots mittels des Sittenrechts politische Publikationen und Filme wie „Anders als die Andern“. Auf der anderen Seite blühte ein homosexuelles Leben in den „roaring twenties“ in Clubs und Treffs bis zu neuen Zeitschriften für ein homosexuelles Publikum. Eine wohl auf dem Weg zum Durchbruch stehende neue Initiative zur Abschaffung des §175 StGB wurde durch den Beginn der NS-Diktatur unterbunden.
Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus setzte sich die Verfolgung Homosexueller nicht nur fort, sondern wurde drastisch verschärft.
Auszug §175 (1935)
1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt [...], wird mit Gefängnis bestraft.
Auszug §175a (1935)
Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren [...] wird bestraft:
(3) ein Mann über einundzwanzig Jahren, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt [...];
(4) ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt[...].
Vor allem nach der Ermordung des als homosexuell bekannten SA-Führers Ernst Röhm 1934 begann eine Propaganda-Kampagne, die jegliche Homosexualität als sittenwidrige Entartung ächtete. Es folgte 1935 die Verschärfung des §175, ergänzt durch verschärfende Straftatbestände wie Prostitution in §175a.
Der hierbei genutzte Begriff der "Unzucht" ohne den zuvor qualifizierenden Zusatz des "widernatürlichen" bedeutete wichtigen Auslegungen, Richtlinien und Grundsatzurteilen zufolge, die kurz nach der Gesetzesverabschiedung erschienen, eine gezielte Ausweitung. Es ging nun explizit nicht nur darum, beischlafähnliche Handlungen, sondern jede Form zwischen-männlicher Zärtlichkeit als potentiell homosexuelle Kontakte oder Beziehungen strafzuverfolgen. In Bezug auf die letzten Jahre der Weimarer Republik verzehnfachten sich in den Jahren vor Kriegsausbruch die Verurteilungen nach §175 StGB (inkl. §175a) nahezu auf jährlich um die 9.000 Fälle. Die Verfolgung durch den Apparat des NS folgte jedoch ohnehin nur vordergründig rechtlichen Strukturen und ging in der Praxis zunehmend weit über diese hinaus. Dies betraf auch weibliche Homosexualität, die, obgleich der Paragraph sich nur auf männliche Homosexuelle erstreckte, ebenfalls als der ‚Volksgemeinschaft‘ entgegenstehend galt und auf verschiedene Art verfolgt wurde. Dabei traf neben der rechtlichen Verfolgung vor allem die soziale Bestrafung und die gesellschaftliche Ausgrenzung homosexueller Neigungen verdächtiger Personen jedes Geschlechts. Der dramatische Höhepunkt ist die Verschleppung und Inhaftierung von geschätzten 10.000- 15.000 homosexuellen Männern in das Lagersystem des NS. Aufgrund der besonderen Brutalität gegenüber diesen verstarben einer viel zitierten Untersuchung Rüdiger Lautmanns zufolge ca. 53% der Träger des „Rosa Winkels“.
Bundesrepublik bis 1969
Obgleich erst die Alliierten und dann auch die junge Bundesrepublik zahlreiche Strafgesetze des NS revidierten, blieb der §175 in seiner Form von 1935 bestehen. In der von einer prüden Sexualmoral geprägten jungen Bundesrepublik blieb Homosexualität verfolgt und wurde weiterhin ins Unsichtbare gedrängt. Eine neue Diskussion um die Strafverfolgung setzte Mitte der 1950er Jahre ein, an deren Ende das Bundesverfassungsgericht die Verfassungskonformität des §175 StGB als Verfolgungsinstrument männlicher Homosexualität bestätigte.
Zwischen Wirtschaftswunder und Westintegration zeigte sich am Umgang mit Homosexualität dabei nicht nur eine Kontinuität der Rechtspraxis, sondern auch in der dahinter liegenden Rechtsphilosophie. Das Bundesverfassungsgericht nahm dabei ein angeblich der Justiz und dem Gesetzgeber übergeordnetes Sittlichkeitsgefühl, die Sexualmoral der Kirchen, explizit als Maßstab für die Begründung der Strafverfolgung einer Minderheit. Die somit vorerst fixierte Kontinuität nationalsozialistischen Rechts gegenüber Schwulen führte 1963 Hans-Joachim Schoeps zu einem mittlerweile berühmten Diktum, dass für Homosexuelle die Zeit des Dritten Reiches noch nicht zu Ende sei. Unmut brachte auch eine vom Kabinett Adenauer präsentierte Neufassung eines Strafgesetzbuches Anfang der 1960er Jahre, die den §175 (nun als §216 geführt) lediglich auf die Norm von vor 1935 zurückführen sollte. Der prominente Jurist Herbert-Ernst Müller charakterisierte dies schlicht als die „Rückkehr in eine Zeit, in der Moral mit dem Zentimetermaß gemessen wurde.“ Die Vorschläge versandeten. Der §175 überdauerte in der nationalsozialistischen Fassung alle fünf Kabinette Adenauers und beide Erhard-Kabinette.
Nach der Strafrechtsreform 1969
Im Zuge der von der großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger verabschiedeten Großen Strafrechtsreform erfuhr 1969 auch der §175 eine Revision.
Auszug §175 (1969)
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft
1. ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt [...],
3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt [...] oder sich dazu anbietet.
Das nun an der Verletzung von Rechtsgütern ausgerichtete Strafrecht erkannte im einvernehmlichen Sex zwischen zwei Männern keinen strafbaren Akt mehr. Unter Rückgriff auf althergebrachte Thesen der Verführung zur Homosexualität sah der Gesetzgeber aber bei Homosexualität einen höheren Bedarf an Jugendschutz, als bei heterosexuellem Sex. Hier lag die Altersgrenze bei 14 Jahren, wohingegen bei homosexuellen Männern Geschlechtsverkehr mit bis zu 21-jährigen Männer als strafbar galt. Dies wurde 1973 erneut auf 18 Jahre abgesenkt. Dies bedeutete weiterhin eine strafrechtliche Sonderbehandlung homosexueller Männer im Alter sexueller Findung. Ebenso fiel erst 1973 die Strafbarkeit der männlichen homosexuellen Prostitution weg.
Der folglich starke Rückgang der Verurteilungen – sie war im Zuge des Generationswechsels unter den Richtern bereits seit Ende der 1950er Jahre rückläufig – beendete aber keineswegs die Stigmatisierung von Homosexualität. Folglich war weniger das Strafrecht, sondern das Geraune über einen „Schwulenparagraphen“ Ressource für gesellschaftliche Diskriminierung.
§175, Abs.1 (1973)
Ein Mann über achtzehn Jahren, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter 18 Jahren vornimmt oder von einem Mann unter 18 Jahren an sich vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Parallel führten dazu ab den 1970er Jahren die aus den USA nach Deutschland wirkende Schwulenbewegung, das Erstarken des Feminismus und die fortschreitende Urbanisierung zum Entstehen vieler lokaler emanzipatorischer Initiativen, aus denen oft Selbsthilfegruppe und dann auch offizielle Interessenvertretungen hervorgingen. Homosexualität wurde öffentlich sichtbar, wenngleich sie nach wie vor stigmatisiert blieb.
Anstelle der staatlichen Verfolgung nahm nun mit der Sichtbarkeit von Homosexualität in den Städten der Bundesrepublik die Gewalt gegen diese zu. Gegen diese sozialen Ausgrenzungsversuche waren vor allem die 1980er Jahre von primär kulturellen Sichtbarkeits- und Gleichberechtigungskämpfen geprägt. Diese Bewegung wurde von der AIDS-Krise im Kern getroffen. Die Dramatik des Sterbens und die Unklarheit über Herkunft und Verbreitungswege führte zur Absonderung von HIV als „Schwulenpest“ und zu neuen Stigmatisierungen. Doch die Krise und staatliche Fürsorgedefizite führte auch zu neuer Selbstorganisation, wie der AIDS-Hilfe.
Auch setzte in den selbstorganisierten Zirkeln eine intensive historische Beschäftigung mit der Verfolgung von Homosexualität ein, die sich anfangs besonders auf Männer und die NS-Zeit konzentrierte. Durch diese Arbeiten homosexueller Initiativgruppen und wichtige Impulse aus dem anglo-amerikanischen Raum wuchs das wissenschaftliche Interesse am Thema. Auch hier stand zu Beginn die Verfolgung im Nationalsozialismus im Vordergrund. In den letzten Jahren erfährt aber zunehmend die jüngere Zeitgeschichte und ein breiteres Themenspektrum deutliche Aufmerksamkeit. An diese Stränge sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch der öffentlichen Beschäftigung knüpft unser Projekt an.
Die Streichung 1994
Auch in der DDR hatte der §175 offiziell bis 1968 Bestand, wenngleich ein Urteil seine Anwendung bereits ab 1958 ausgesetzt hatte. In der Strafrechtsreform 1968 wurde er durch seinen Folgeparagraphen 151 StGB (DDR) abgelöst, der ähnlich den kommenden Regelungen in der Bundesrepublik höhere Schutzgrenzen für homosexuellen als für heterosexuellen Geschlechtsverkehr definierte. Er erfasste jedoch sowohl männliche als auch weibliche Homosexualität. Er wurde im Sommer 1989 ersatzlos gestrichen.
Im Zuge der Angleichung der Strafrechtsnormen nach der Wiedervereinigung mündete dies 1994 in der öffentlich zuvor kaum diskutierten Streichung des §175 aus dem Strafgesetzbuch. Auf Basis dieser Rechtsänderung und durch immer wirksamere öffentliche Repräsentation sowie eine sich wandelnde gesellschaftliche Akzeptanz folgten ab dem rot-grünen Regierungsantritt weitere rechtliche Gleichstellungen, die letztlich im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 in der sogenannten „Ehe für alle“ mündeten. Diese wichtigen Erfolge bedeuten aber keineswegs eine Sicherheit vor Diskriminierung vor allem im Sozialen, noch Sicherheit, wie die steigende Gewalt gegen LGBTIQ*-Personen verdeutlicht.
Konzeptionelle Schlussfolgerung
Bereits anhand dieses kleinen rechtshistorischen Umrisses lässt sich feststellen, dass die Wirkung der rechtlichen Sonderbehandlung männlicher Homosexualität nicht auf die justizielle Ungleichbehandlung reduziert werden kann, wie sie zum Beispiel im Fokus gegenwärtiger Entschädigungsverfahren steht.
Kurt Mühlenschulte*
Klar, man, das war ja für alle offensichtlich. Der Paragraph diskriminiert. Aber das wurde ja gar nicht als Diskrimination, sondern als Jugendschutz, oder weiß ich wie, formuliert.
Das aus Recht erwachsende Unrecht war nicht nur Gegenstand juristischer Unrechtsurteile und erstreckte sich keineswegs nur auf vom Strafrechtsparagraphen erfasste Männer. Neben der direkten Strafverfolgung diente das Recht weit über seine Materialität hinaus einer gesellschaftlichen Diskriminierung jedweder queerer Selbstentwürfe, indem es bestehende Vorurteile kodifizierte und Ausgrenzung legitimierte. Vor allem ab 1969 zeigt sich hierbei, dass weniger die Strafverfolgung selbst, sondern die Schutzbehauptung des §175 ein Exklusionsmotor war, der in erster Linie Emanzipation in weiteren sozialen und rechtlichen Feldern verhinderte. In diesem Sinne fragt unser Projekt vor allem nach der sozialen Wirkung rechtlicher Diskriminierung.
©VHM (2020)