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Kampf um Sichtbarkeit (1983-1994)
In den 1980er Jahren setzten sich die Dynamiken der ausgehenden 1970er Jahre intensiviert fort. Das Jahr 1983 ist darum kein Jahr des harten Bruchs, wohl aber eines, in dem sich Tendenzen des homosexuellen Lebens in Osnabrück bündelten. Es läutete damit eine neue Phase ein, deren Vielfältigkeit sich als ein in die Stadtöffentlichkeit getragener Kampf um Sichtbarkeit zusammenfassen lässt.
1983 institutionalisierte sich die AHO einerseits, was zur Vereinsgründung im Januar 1984 führte. Andererseits erlebte sie einen heftigen internen Streit, der in der Gründung der GSG mündete. Darüber hinaus traf sich ab 1983 fest eine schwule Coming-Out-Gruppe ("Neuengruppe") in der Lagerhalle und Gay in May wurde immer bekannter. Ebenso erlebte die lesbische Selbstorganisation einen Schub. Die Gründung des feministischen Frauenbuchcafés "Mother Jones" bot einen geschützten Raum, in dem sich ein lesbischer Stammtisch formieren konnte. Er wurde schnell zu einer zentralen Anlaufstelle für lesbische Frauen. Insgesamt erlebte das lesbische Leben nun einen ähnlichen Aufschwung wie die schwulen Emanzipationsbewegungen Ende der 1970er Jahre. 1982 hatten vier Frauen in Osnabrück den mittlerweile bundesweit tätigen "Lesbenring" gegründet. Dieser veranstaltet am 20. bis 23. Mai 1983 gemeinsam mit der ‚Lesbengruppe Osnabrück‘ das bundesweite lesbische Pfingsttreffen in der Halle Gartlage. Diese Großveranstaltung wurde bereits 1985 fortgesetzt mit einem lesbischen Sommerfest im Gemeinschaftszentrum Ziegenbrink.
Die Veralltäglichung wird sichtbar
Dementgegen wurde 1983 aber der HI-Virus erstmalig beschrieben und langsam erreichte HIV/AIDS auch Osnabrück. Dies bedeutete zuallererst Leid für die Betroffenen und große Unsicherheit für die anderen. Neue Stigmatisierungen entstanden und wirkten, das Wort der "Schwulenpest" macht die Runde und Schlagzeilen. Dies traf aber auf eine Atmosphäre der Selbstorganisation, woraus unter anderem die AIDS-Hilfe Osnabrück entstand. Insgesamt nahmen in den Jahren ab Mitte der 1980er selbstorganisierte Initiativen stark zu, was sich in der Karte in einer deutlichen Verschiebung zugunsten von emanzipatorischen Orten niederschlägt.
Dazu kamen vermehrt formelle Alltagsorte wie (großenteils schwule) Szenekneipen, die mit der Ausgeh- und Tanzkultur der späten 1980er Jahre immer mehr eine Mischung aus Bars und Klubs wurden. Diese Ambivalenz aus einerseits tatsächlicher Todesangst und massiver diskursiver Stigmatisierung und andererseits einer sich immer offener formierenden und wortwörtlich fest einmietenden erst schwulen und dann zunehmend homosexuellen Szene bedeutet den Durchbruch für die Sichtbarkeit von Homosexualität im Osnabrücker Stadtraum. Sie wurde keineswegs "normal" im Sinne der bestehenden Moral- und Rechtsvorstellungen, aber sie veralltäglichte sich.
Sichtbarkeit und Angriffsfläche
Denn wenngleich die Sichtbarkeit nun eminent zunahm, zeigte die aus der Stadtbevölkerung kommende Aggression immer wieder, dass homosexuelles Leben nicht alltäglich sein sollte, geschweige denn als normal akzeptiert würde. Für die 1980er Jahre häufen sich die Beschreibungen von Übergriffen. Das Jahrzehnt sollte also keineswegs als die Zeit einer triumphalen Befreiung romantisiert werden. Weniger eine Kartierung, sondern vielmehr die Interviews spiegeln dabei, wie stark die Alltäglichkeit dieser, oft verbalen, teilweise aber auch körperlichen Übergriffe aus der Gesellschaft, die Zunahme offen rechtsradikaler Bedrohungen und Angriffe und das als unzureichend empfundene Einschreiten der Staatsgewalt das fragile Sicherheitsempfinden der Betroffenen prägte.
©VHM (2020)